Rund zehn Prozent der Menschen leiden an wiederkehrenden Verdauungsproblemen – oft ist ein so genannter Reizdarm die Ursache. Nur ein Teil der Leidenden sucht fachkundige Hilfe. Dabei lassen sich die Reizdarm-Beschwerden wirkungsvoll durch Naturheilmittel behandeln und lindern.
Autor: Adrian Zeller, 12.09
Wenn Markus N. das Haus verlässt, kontrolliert er stets, ob er alles eingesteckt hat: Agenda, Handy, Taschentuch, Wohnungsschlüssel – und ein schnell wirkendes Medikament gegen Durchfall. Der 44-Jährige leidet an einem so genannten Colon irritabile. Seine Erkrankung ist auch unter verschiedenen anderen Namen bekannt: Reizkolon, Reizdarm-Syndrom (RDS), funktionelle Störung des Magen-Darm-Trakts oder «irritable bowel syndrome» (IBS).
Ein Reizdarm ist eine jener Krankheiten, die sich nicht bei allen Betroffenen mit den gleichen Beschwerden bemerkbar machen. Weil sich ihre Anzeichen beispielsweise mit Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten oder einem Darminfekt überschneiden können, dauert es oft lange, bis sie richtig diagnostiziert und entsprechend behandelt wird. Reizdarm-Patienten haben häufig einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie kompetente Hilfe erhalten.
Manche Betroffene leiden vor allem an Verstopfung, andere sind eher vom Gegenteil betroffen, wie Markus N. Wenn er ein Zwicken und Rumoren im Bauch spürt, muss er rasch zu seinen Tabletten greifen, es machen sich erste Anzeichen von Durchfall bemerkbar. Bei anderen Erkrankten stehen vor allem Blähungen, Druckgefühle oder Bauchkrämpfe im Vordergrund. Auch übermässige Magengeräusche wie Gurren und Glucksen können mit einem Reizdarm zusammenhängen, und die Symptome können immer wieder wechseln.
Während bei den einen Patienten die Beschwerden häufig und in kurzen Abständen auftreten, haben andere manchmal jahrelang Ruhe. So erging es Iris W. Die Reinigungsfachkraft erwachte nachts mit einem starken Druckgefühl im Bauch. In den folgenden Tagen fühlte sie sich trotz Schonkost nicht viel besser. Besorgt konsultierte sie einen Facharzt für Magen-Darmleiden. Dieser untersuchte sie eingehend und liess sich auch über ihre aktuelle Lebenssituation informieren. Anschliessend schaute er sich mit einer Sonde den Dickdarm von innen an.
Er konnte sie beruhigen: Sie litt nicht an einem Tumor, wie sie gefürchtet hatte. In ihrem Darm herrschte lediglich ein zünftiger, aber letztendlich harmloser Aufruhr.
Im Gespräch mit dem Arzt stellte sich heraus, dass die Symptome ziemlich genau dann begonnen hatten, als der Alleinerziehenden die pubertätsbedingten Probleme ihrer Tochter über den Kopf wuchsen. Es fiel ihr auch ein, dass sie vor Jahren schon einmal über Wochen unter Verdauungsstörungen gelitten hatte – damals war ihre Ehe in die Brüche gegangen. Seinerzeit liess sie sich nicht ärztlich abklären und behandeln, sondern versuchte mit Tee, Zwieback und Gemüsebrühe über die Runden zu kommen. Schliesslich hörte das Bauchrumoren von selbst wieder auf.
Dass, wie bei der 42-jährigen Iris W., die Beschwerden vor allem in schwierigen Lebenssituationen auftreten, kann für einen Reizdarm typisch sein. Stress und Ärger können die Symptome erheblich verstärken.
Die Forschung geht von genetischen Einflüssen als zusätzlichem Auslöser aus. In manchen Familien treten Probleme mit der Verdauung gehäuft auf. Weshalb allerdings Frauen ungefähr dreifach so häufig an einem Reizdarm erkranken wie Männer, ist bisher ungeklärt. Rätselhaft ist auch, wieso viele Reizdarm-Patienten gleichzeitig unter depressiven Verstimmungen und/oder Angstzuständen leiden. Auch Migräne und Rückenprobleme sowie Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen kommen bei diesen Menschen gehäuft vor. Spekuliert wird über einen Zusammenhang mit einem Nervenbotenstoff, der auch die Darmsteuerung beeinflusst.
Die Verdauung ist ein mehrstufiger, komplexer Prozess, der im Mund mit dem Kauen und Einspeicheln der Nahrung beginnt und Stunden später mit dem Ausscheiden der Überreste endet. Dazwischen liegt ein rund acht Meter langer Weg, dessen prozesshafte Verfahren an eine chemische Fabrik erinnern. An ihm sind neben Magen und Darm verschiedene Organe wie Bauchspeicheldrüse, Leber und auch Galle beteiligt. Komplizierte biologische, chemische und physikalische Wechselwirkungen sorgen dafür, dass Eiweiss, Kohlnehydrate, Mineralstoffe, Vitamine, Spurenelemente und sekundäre Pflanzenstoffe optimal aus den Speisen und Getränken herausgelöst werden und via Blutbahn in die einzelnen Zellen und Organe gelangen.
Um diese Aufgabe zu bewältigen, muss das Verdauungssystem Höchstleistungen vollbringen: Ein Mensch konsumiert innerhalb von 75 Lebensjahren im Durchschnitt rund 30 Tonnen Speisen sowie etwa 60 000 Liter Getränke. All das will verwertet werden! Ob Birchermüsli oder Fondue, ob Hausmannskost oder exotische Menüs im Urlaub, auf die grossen Unterschiede muss das Verdauungssystem automatisch richtig reagieren. Ein ausgeklügeltes System von Nervenimpulsen sorgt für das richtige Timing bei der Abgabe der Verdauungssäfte. So muss beispielsweise die stark konzentrierte Magensäure im Dünndarm genügend neutralisiert werden – andernfalls wären starke Schmerzen die Folge.
Mediziner gehen davon aus, dass bei Reizdarm-Betroffenen die Steuerung der Verdauung übersensibel und störungsanfälliger reagiert als beim übrigen Teil der Bevölkerung. Wie neuere Forschungen zeigen, ist auch die Darmflora nicht in der richtigen Ausgewogenheit vorhanden. Rund 100 Billionen Bakterien aus mehreren hundert Arten besiedeln die rund 400 Quadratmeter grossen, stark gefalteten Darmwände. Dort unterstützen sie unter anderem das Immunsystem, übernehmen Aufgaben bei der Verdauung und beeinflussen die rhythmischen Bewegungen des Darms. Wenn bestimmte Mikrobentypen überhandnehmen, kann es zu Verdauungsbeschwerden kommen.
Manche Ärzte, die mit einem Reizkolon zu wenig erfahren sind, halten die Erkrankten für Hypochonder, die in jeder körperlichen Missempfindung gleich ein Anzeichen einer ernsten Krankheit sehen. Doch damit tun sie den Reizdarm-Betroffenen Unrecht: Für sie bedeutet ihr Leiden meist eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität. Aus Angst vor anschliessenden Beschwerden müssen sie etwa Einladungen zum Essen mit Verwandten absagen und auch bei geselligen Anlässen passen. Weil sie Blähungen oder Durchfall fürchten, verzichten manche aus Scham auch auf Theater- und Kursbesuche.
Weil die Ursache des Reizdarms bisher nicht vollständig geklärt ist, gibt es auch keine Behandlung, die am Ursprung ansetzt. Doch dank neuerer Forschung haben die Chancen auf eine baldige Entwicklung entsprechender Heilmittel zugenommen. Bereits jetzt sind krampflösende und verdauungsunterstützende Medikamente erhältlich. Weitere wirken gegen einzelne Beschwerden wie etwa übermässige Gasansammlungen oder Störungen in der Darmflora. In Apotheken, Drogerien und Reformhäusern kann man sich entsprechend beraten lassen.
Grundsätzlich gilt es zu bedenken, dass es individuelle Unterschiede gibt, nicht alle Reizkolon-Patienten sprechen gleich gut auf entsprechende Heilmittel an. Mit anderen Worten: Tipps aus dem Bekanntenkreis führen nicht bei allen Betroffenen zum gleichen Erfolg. Während beispielsweise regelmässiger Verzehr von Naturjogurt bei manchen die Verdauung fördert, bekommen andere davon lediglich vermehrt Blähungen.
Die Beschwerden lassen sich mit Arzneien aus der Natur erheblich lindern. Zu Pulver gemahlene indische Flohsamenschalen (Plantago ovata) wirken als natürlicher Stuhlregulator sowohl bei Verstopfung wie auch bei Durchfall. Sie quellen im Verdauungstrakt auf und sondern Schleimstoffe ab, dadurch wird die Verdauung erleichtert. Zusätzlicher Vorteil: Das Wachstum nützlicher Bakterien wird gefördert, gleichzeitig sinkt auch der Cholesterinspiegel. Flohsamen-Produkte sind im Fachhandel erhältlich.
Des Weiteren hat sich Pfefferminze bei Reizdarm-Beschwerden sehr bewährt: Sie wirkt krampflösend und beruhigend. Am wirkungsvollsten ist sie in Form von pfefferminzölhaltigen Kapseln. Als Tee ist sie ebenfalls empfehlenswert, aber weniger wirksam, da der Gehalt an ätherischem Öl erheblich geringer ist. Weitere hilfreiche Heiltees sind: beruhigende und entzündungshemmende Kamilleblüten, verdauungsfördernde und blähungsreduzierende Kümmelsamen, entkrampfende Anisfrüchte sowie Magen und Darm beruhigende Fenchelsamen. Manchen Betroffenen helfen auch Tees aus Ingwer, Wermut, Schafgarbe oder Gewürznelken. Wegen ihres intensiven Aromas sind sie allerdings gewöhnungsbedürftig. Bei Durchfall bewährt sich übrigens auch Schwarztee.
Bei Reizdarm-Beschwerden helfen oft auch Veränderungen im Alltag: Für die Mahlzeiten muss man sich genügend Zeit nehmen. Hastiges Herunterstürzen eines Espressos im Stehen zum Frühstück oder das rasche Verdrücken eines Sandwichs zwischen zwei Sitzungen bekommen einem empfindlichen Magen und Darm sicher nicht. Gründliches Kauen der Speisen, wie Alfred Vogel es immer empfahl, nimmt den nachfolgenden Stationen nicht nur viel Arbeit ab, es fördert auch die Ausschüttung von unterstützenden Verdauungssäften.
Wenn die Ernährung auf fünf kleinere Portionen über den Tag verteilt wird, werden dem Darm weniger überfordernde Höchstleistungen abverlangt. Genügend Entspannung, beispielsweise bei Spaziergängen, mit beruhigender Musik oder mit Übungen wie z.B. Tai Chi, wirkt sich harmonisierend auf die Verdauung aus. Stress und Hektik sollte man sich nur in Ausnahmefällen zumuten.
«Belastende» Nahrungsmittel wie Knoblauch, Zwiebeln, scharfe Gewürze sowie Bohnen und Kohlgemüse sollten Reizdarmpatienten nur in geringen Mengen konsumieren. Ballaststoffe sind sehr wichtig, aber man darf es nicht übertreiben: Andernfalls kann der Nahrungsbrei vom überlasteten Dickdarm in den Dünndarm zurückfliessen, die Folge sind schmerzhafte Entzündungen.
Viel Flüssigkeit wirkt verdauungsunterstützend; zwei Liter stilles Mineralwasser und/oder Kräutertee sollten pro Tag konsumiert werden. Alkoholische Getränke und Kaffee dürfen sich Reizdarm-Patienten höchstens in geringem Masse gönnen.
Da nicht bei allen Betroffenen die gleichen Speisen und Getränke zu Beschwerden führen, ist es sinnvoll, während ein bis zwei Wochen alles zu notieren, was man zu sich nimmt, und darauf zu achten, wann es vermehrt zu Krämpfen oder zu Durchfall kommt.
Bei manchen Reizdarmpatienten werden die Beschwerden durch grössere Mengen am Süssem, Fettigem oder durch Milchprodukte ausgelöst. Mit einer vorübergehenden Überwachung der eigenen Ernährung kommt man solchen Auslösern auf die Spur.
Und noch ein wichtiger Hinweis: Nur ungefähr die Hälfte aller Menschen mit Reizdarm-Symptomen verlangt nach ärztlichem Rat, die anderen versuchen ohne Hilfe und professionelle Behandlung über die Runden zu kommen. Zwar sind die Beschwerden dieser Krankheit lästig, aber harmlos. Gleichwohl sollten wiederkehrende Bauchbeschwerden von einer medizinischen Fachperson abgeklärt werden, denn sie können auch Anzeichen einer schwerwiegenderen Krankheit sein, die rechtzeitig behandelt werden muss.